Ist das Leidenschaft oder Burnout? Und sind anspruchslose Menschen glücklicher als Träumer & Macher?
„Irgendwann können wir unser Individuum nicht mehr eigenständig bewältigen.“
„Interessant wie stressig dein Leben geworden ist im Zusammenhang mit dem Fakt dass du das Thema Genuss kommunizierst. Sehr kontrovers.“
Diese zwei Aussagen von heute nehme ich zum Anlass endlich den Artikel zu schreiben den ich schon vor langer Zeit schreiben wollte.
Heute habe ich an einem Vortrag eines Zukunftsforschers und Philosophen zum Thema „Megatrends und langfristige Entwicklungen die unser Wertesystem und Zeitgeist bestimmen“ teilgenommen und habe ihn mit ziemlich gemischten Gefühlen wieder verlassen.
Megatrends sind langfristige Entwicklungen die unsere Gesellschaft formen. Auch wenn die Megatrends an sich super interessant sind, möchte ich nicht mehr darauf eingehen weil es nicht zwingend das Thema ist. Ein Megatrend ist allerdings unter anderem „Individualität“. Ich denke – also bin ich. Schon früh dreht sich alles um das eigene Individuum. In unserer heutigen Zeit, „der Moderne“ und in meiner Generation Y dreht es sich aber insbesondere um Sinnhaftigkeit & Selbstverwirklichung . Das Leben läuft nicht mehr wie früher linear wie eine Rolltreppe nach oben. Dynamisch muss es heute sein. Jeder möchte sein Ding machen und die gute Nachricht dabei: Jeder hat die Möglichkeiten GENAU DAS zu tun. Ist das nicht großartig?
Ja! Ist es! Das verspreche ich euch.
Ich bin das beste Beispiel und habe mich letztes Jahr nach meinem Sinn gefragt und mich mit mir und dem beschäftigt was ich eigentlich tun möchte in meinem schönen kurzen Leben. Im Anschluss habe ich das Projekt „Selbstverwirklichung“ in Angriff genommen, mich Selbstständig gemacht und siehe da:
Ich lebe heute meinen Traum.
Oder?
Irgendwie schon – jeden Tag denke ich mir mehrmals : „wie geil ist es bitte, das ich das tue was ich liebe und werde dafür auch noch bezahlt!“ Meine Arbeit fühlt sich nicht mehr wie Arbeit an, ich habe Freiheit und Flexibilität, alles was ich mir gewünscht und erhofft habe. Ich darf so viele verschiedene Personen kennenlernen. Ich interessiere mich für so viele Dinge und kann selbst entscheiden was ich mache und womit ich mich befasse. Das ist großartig und sind doch alles Positive Eigenschaften …
Ist das wirklich so?
Ja! Aber auf der anderen Seite habe ich eine neue Kehrseite mit dazubekommen.
Die Kehrseite des Drucks und des nie Abschalten Könnens.
Ich arbeite seit mehreren Monaten fast ausschließlich 7 Tage die Woche, die Stunden am Tag variieren dabei zwischen 12 und 16. Schlaf & Ruhephasen? Fehlanzeige!
Das Gute (??): ich merke es nicht, es fühlt sich nicht schlimm an, weil die Arbeit sich nicht wie Arbeit anfühlt. Weil alles Spaß macht.
Ich kann mich ausleben: Texte schreiben, Fotografieren, Filmen, Filme schneiden, Social Media Konzepte erstellen, Bilder bearbeiten, Rezepte entwickeln, tolle Produkte entdecken, schön Essen gehen, an tollen Reisen teilnehmen, und und und. Ich habe tausend Ideen denen ich nachgehen möchte, hunderte Themen über die ich mich informieren, mich weiterbilden möchte und so viele Menschen mit denen ich gerne mal einen Kaffee trinken und einfach nur sprechen will. Und das Beste: Ich kann das prinzipiell alles tun. Großartig!
Aber das ist ja nur auf die Arbeit bezogen, jetzt möchte man vielleicht auch noch Bücher lesen, Filme schauen, auf Konzerte gehen, Ausstellungen besichtigen und und und. Weil Work-Life-Balance ist ja auch wichtig!
Aber irgendwann kommen die Momente in denen man merkt: mein Kopf ist zu voll, mein Kopf ist zu voll. Ich habe zu viele To Do’s, ich komme nicht hinterher die Liste wird nie kürzer, täglich kommen neue To Do’s dazu ich möchte so gerne eine Pause machen, muss aber Funktionieren. Und ich funktioniere. Irgendwie. Irgendwie habe ich ein sau dickes Fell und kann seit einigen Monaten abnormal vieles ab.
Ehrlich gesagt warte ich nur auf den Tag wo Schicht im Schacht ist und mein Körper sagt: „nö du, jetzt so nicht mehr. „
Aber der Tag kommt nicht. Und ich funktioniere und funktioniere weiter mit dem Leitsatz dass ich „diese Woche das meiste fertig mache und ab nächster Woche alles besser wird“. Aber es wird nie besser. Und das Schlimmste: es fühlt sich immer noch nicht wie Arbeit an obwohl man ganz genau weiß dass es nicht gut ist und man definitiv zu viel arbeitet.
Ich weiß, dass das nicht gesund ist. Und ich weiß dass es vielleicht auch nicht effektiv ist. Ich könnte noch bessere Arbeit abliefern wenn ich nicht so voll im Kopf wäre. Ich weiß, dass ich mehr Schlaf brauche und dass ich weniger arbeiten muss. Trotzdem stecke ich fest in dem Apparat und die Show muss weiter gehen.
Ich habe mein Glück selbst in der Hand – genau. Und deswegen tue ich soviel wie möglich dafür viele Jobs zu kriegen, auf jeder Hochzeit mitzutanzen und einfach alle Möglichkeiten zu nutzen die mich interessieren.
Aber ich merke wie ich nicht mehr hinterherkomme.
Ich habe Zugriff auf zu viele Möglichkeiten die ich nutzen möchte. Aber ich habe garnicht soviel Zeit alle Möglichkeiten zu nutzen und der Druck wird enorm.
Und genau da bin ich an dem Punkt der mir beim Vortrag vorhin vor die Füße geworfen wurde: Ich kann mein Individuum nicht mehr eigenständig bewältigen.
Tja – was mache ich jetzt mit der Info?
Ich dachte es ist gut fleissig zu sein, diszipliniert, interessiert, neugierig und belastbar. Aber irgendwie bin ich von all dem zu viel. Und ich spüre wie mich das krank macht.
Selbst wenn ich mir mal einen Feierabend oder ein paar freie Stunden gönne, kann ich nicht abschalten. In meinem Kopf schwirren immer noch tausende To Dos und immer wieder ploppt eine neue Idee auf die ich mir notieren muss.
Sogar Freizeit fühlt sich wie Arbeit an, weil ich mir dafür Termine eintragen muss. Trage ich mir eine Mittagspause in den Kalender ein, damit ich sie einhalte, fühlt es sich schon wie Arbeit an, weil es als Termin im Kalender steht. Treffe ich mich am Abend mit jemandem den ich schon lange mal wieder Treffen wollte, fühlt es sich wie Arbeit an – weil es ein Termin im Kalender ist.
Was ist denn dann überhaupt noch Freizeit? Und wann kann ich endlich mal wieder richtig meinen Kopf leer machen?
Tja und da stelle ich mir mal wieder die Frage, über die ich schon oft gesprochen habe:
Sind die Leute, die sich garnicht mit ihrem Leben befassen und einfach das tun was ihnen in den Schoß fällt vielleicht doch glücklicher als die, die sich Selbstverwirklichen? Sind die, die nicht so viele Möglichkeiten haben zufriedener?
Oder müssen wir einfach nur lernen die Vielfalt in einem gesunden Maß zu nutzen und geht das überhaupt?
Zum Glück ist da bei mir noch der Genuss.
Das Gute: Ich schaffe es zwischendurch immer noch zu Genießen. Einfach weil ich ein Genießerin bin. Wahrscheinlich halte ich der Belastung auch deswegen solange stand. Weil ich es trotzdem nicht verlernt habe gute Musik zu genießen, einen guten Wein, eine ordentliche Mahlzeit, die Natur – ohja und vor allem die Natur!
Aus diesen Kleinigkeiten schöpfe ich Kraft. Und genau deshalb – weil Genuss einfach so wichtig ist – kommuniziere ich das ja für euch.
Umso trauriger und ängstlicher macht es mich, dass im Vortrag heute auch der Zukunftsforscher nochmal bestätigt hat, dass wir Abstumpfen.
Uns fehlt es an Resonanz.
Wir kennen immer noch höher, besser, größer, weiter. Deshalb erleben wir keine Gänsehaut-Momente mehr, vieles lässt uns unbeeindruckt.
Beispielsweise schöne Musik, der Himmel in tollen Farben & Formen, eine besonders hübsche Blume, der Gesang von Vögeln oder der Geruch von einer bestimmten Sache. Ich kenne einige Personen die es lächerlich finden wie ich stundenlang verliebt in den Himmel schauen, oder für mehr als 2 Sekunden den Anblick einer Blume genießen kann. Diese Leute sind wahrscheinlich schon abgestumpft. Heute in der Stadt ist es mir nochmal ganz bewusst klar geworden und deshalb war ich so aufgewühlt. Ich bin an 2 wundervollen Straßenmusikern vorbeigekommen und bei beiden seeehr lange verweilt, weil mich ihre Musik so gerührt hat. Als ich so da saß und einfach nur zugehört habe, sind hunderte Menschen ohne mit der Wimper zu zucken vorbei gelaufen, haben sich sogar lustig gemacht oder die Musik komplett ignoriert. WIE GEHT DAS?
Ich könnte das Feld jetzt noch viel größer machen und über Instagram Filter und Photoshop reden, was auch zur Abstumpfung gehört. Farben werden krasser gemacht, Körper schlanker, Gesichtszüge weicher, Brüste größer. ABSTUMPFUNG GEGEN DIE NATÜRLICHE SCHÖNHEIT unser Erde.
Ich möchte mich nicht rausnehmen, ich verwende auch Filter und bearbeite meine Fotos und gerade wollte ich mich rechtfertigen dass es sich bei mir ja sehr stark in Grenzen hält. Aber tut es das? Oder bin auch eine von denen die die Abstumpfung voran treibt?
Ein Mensch der die Kleinigkeiten im Leben nicht mehr zu schätzen weiß, der hat doch irgendwie schon verloren oder? Was kann diesen Menschen dann noch zufrieden stellen?
Oder sind Leidenschaft, Neugier, Offenheit und all die anderen Eigenschaften über die ich oben geschrieben habe in zu ausgeprägter Form ein Garant für Überforderung? Kann man nur so ein bisschen Leidenschaftlich sein? Oder nur ein bisschen Diszipliniert? Geht das überhaupt?
Tja meine Liebe Tochter. Wahrscheinlich so funktioniert Wachstum, lernen und Erfarung. Entscheidungen zu treffen ist nicht so einfach. Freiheit zu haben und sie zu leben ist ein ganz grosses Glück und Privilleg. Irgendwann aber merkst du, wie du es offensichtlich jetzt tust, das es doch vielleicht Grenzen oder Schranken gibt, die es zu beachten gibt. Spätestens, wenn der Körper Signale sendet und Du den Frieden verlierst und vom Jäger zum Gejagten wirst sollst du evtl. innehalten und Gang runterschalten?